Arthur Sullivan – Auf dem Weg zur englischen Oper


von Meinhard Saremba



Der folgende Artikel entstand als Programmhefttext zu den Sullivan-Konzerten der Internationalen Opernakademie der L'Opera Piccola e.V. aus Bad Schwalbach in Ludwigshafen (25. Mai 2009) und Bad Schwalbach (6. Juni 2009). (www.internationale-opernakademie.eu)


„Ich versuche mir oft vorzustellen, was aus mir geworden wäre, wenn ich nie nach Deutschland gekommen wäre“, schrieb Arthur Sullivan im Oktober 1860 aus Leipzig an seine Eltern. „Nicht nur ist mein musikalisches Urteilsvermögen größer und reifer geworden, sondern ich habe auch gelernt, wie gute Arbeit gemacht sein sollte. In England haben sie keine Vorstellung davon, die Orchester mit dem Maß an Feuer und farblichen Abstufungen spielen zu lassen, wie sie es hier vermögen, und genau das möchte ich erreichen: die englischen Orchester genauso perfekt zu machen wie die auf dem Kontinent, und sogar noch mehr, denn die Kraft und der Ton der unsrigen ist stärker.“ Sobald Sullivan sein dreijähriges Studium am Leipziger Konservatorium beendet hatte, kehrte er in seine Heimatstadt London zurück und avancierte mit kaum zwanzig Jahren im April 1862 mit der Bühnenmusik zu Shakespears Der Sturm zu einem der führenden britischen Komponisten. In einem Land, in dem man, wie er sagte, sich damit zufriedengab, „Musik zu kaufen“ und von Händel bis Mendelssohn ausländische Komponisten hofierte, setzte er sich dafür ein, aus England „wieder die Musiknation zu machen, die wir in den fernen Jahrhunderten unserer Geschichte einmal waren“. Sullivan schrieb Oratorien, dramatische Kantaten, eine Sinfonie und ein Cellokonzert, Orchester- und Bühnenmusik (vor allem zu Werken Shakespears), Part Songs (mehrstimmige Gesänge) und Lieder (darunter mit The Window nach Tennyson den ersten englischen Liederzyklus). Zudem etablierte er eine nationale Oper in seinem Heimatland, wobei für ihn die Errungenschaften auf dem Gebiet der deutschen Oper von Weber, Marschner und Lortzing, die er in Leipzig erleben konnte, Modellcharakter besaßen. Der endgültige Anstoß, für die Bühne zu schreiben, kam durch seine Begegnung mit Rossini, den er Ende 1862 kennen lernte, als er zusammen mit Charles Dickens nach Paris gereist war. „Ich glaube, dass Rossini der erste war, der mich mit einer Liebe zur Bühne und allem, was mit Oper zusammenhängt, begeistert hat“, erinnerte sich Sullivan. „Bis zu seinem Tod besuchte ich ihn weiterhin jedes Mal, wenn ich nach Paris kam, und nichts trübte das herzliche Verhältnis unserer Freundschaft.“

 

In der Zusammenarbeit mit dem Theatermanager Richard D'Oyly Carte schuf Sullivan zwischen 1875 und 1900 ein breites Spektrum an Werken für die Oper in englischer Sprache. Er prägte damit die unterschiedlichen Archetypen des englischen Musiktheaters in einer Epoche, in der andere britische Komponisten – sofern sie sich überhaupt damit befassten – noch Opern auf italienische Libretti schrieben oder ihre Bühnenkompositionen an deutschen Theatern uraufführen ließen (In einem deutschen Opernführer, der noch im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in mehreren Auflagen erschien, wird Arthur Sullivan als „der namhafteste englische Musiker der Gegenwart“ und als „Urheber der englischen Nationaloper“ bezeichnet 1). Sullivans wichtigster Librettist William Schwenck Gilbert lieferte in erster Linie Texte zu komischen Opern mit einigen aktuellen satirischen Bezügen. Der Komponist kleidete durch seine differenzierte musikalische Ausgestaltung und Instrumentierung jede einzelne Nummer und Szene in ein charakteristisches Klanggewand (1889 verwendet er in einem Brief sogar die Formulierung “clothed with music by me”). Für die Bühne schuf Sullivan mustergültige Werke im Bereich der phantastisch-komischen Oper (Iolanthe 1882, Ruddigore 1886), der Gesellschaftskomödie (Trial by Jury 1875, Patience 1881) und der lyrisch-romantischen Oper (The Yeomen of the Guard 1888, The Beauty Stone 1898 mit Textbuch von Arthur W. Pinero). Der seinerzeit beliebte Exotismus wurde bedient in The Mikado (1885 eine weitere Zusammenarbeit mit Gilbert) und The Rose of Persia (1899 mit Basil Hoods Textbuch).

 

Für sein Opernschaffen strebte Sullivan stets danach, „menschlich reizvolle und glaubwürdige Geschichten“ zu vertonen und in seiner Musik „das emotionale Moment nicht nur der Worte, sondern vor allem der Situation zu verstärken“. Gilbert vermochte den Plänen von Sullivan und Carte, eine nationale Oper in der Landessprache zu etablieren, nicht zu folgen. Er recycelte so oft alte Ideen, dass Sullivan seines – wie er sagte – „Marionettentheaters” überdrüssig wurde. Für Projekte mit historischen Stoffen wie Ivanhoe (1891) und Haddon Hall (1892) arbeitete Sullivan mit Julian Sturgis und Sydney Grundy zusammen, Joseph Bennett schrieb das Textbuch zu der auch szenisch aufgeführten dramatischen Kantate The Golden Legend (1886 nach Hartmann von Aues Der arme Heinrich). Immerhin vermochte Sullivan 1888 Gilbert noch das Libretto zu der lyrisch-romantischen Oper The Yeomen of the Guard abzutrotzen, die dem Komponisten das liebste unter seinen Bühnenwerken war.

 

Seine künstlerischen Grundsätze als Opernkomponist formulierte Sullivan im Juli 1885 in einem Interview mit dem San Francisco Chronicle. „Die Oper der Zukunft ist ein Kompromiss“, sagte er, „denn sie kommt nicht aus der französischen Schule mit ihren prunkhaften, kitschigen Melodien, ihren sanften Licht- und Schattenwirkungen, ihren theatralischen Gesten voll Effekthascherei; nicht aus der Wagnerschen Schule mit ihrer Düsterkeit und den ernsten, ohrenzerfetzenden Arien, mit ihrem Mystizismus und ihren unechten Empfindungen; und auch nicht aus der italienischen Schule mit ihren überspannten Arien, Fiorituren und an den Haaren herbeigezogenen Effekten. Sie ist ein Kompromiss zwischen diesen dreien – eine Auswahl aus den Vorzügen der drei anderen.“

 

Leonard Bernsteins Grundsatz „Jede gute Musik ist ernste Musik“ schien auch für Sullivan Gültigkeit zu haben. Dabei legte der englische Komponist stets Wert darauf, dass seine Werke nicht in bearbeiteter Form oder für Blaskapellen verunstaltet aufgeführt wurden, denn „Orchesterfarben spielen in meinem Werk eine so große Rolle, dass es seinen Reiz verliert, wenn sie ihm genommen werden“. Auch wenn das Kulturestablishment Sullivan bereits zu Lebzeiten vorwarf, „ein Musiker, der in den Ritterstand erhoben wurde, kann schwerlich Kaufhaus-Balladen schreiben – er darf nicht wagen, sich mit etwas Geringerem als einem Anthem oder einem Madrigal die Hände schmutzig zu machen“ (Musical Review, Mai 1883), hatte er selbst mit seinem Spagat zwischen dramatischen und unterhaltsamen Werken keine Probleme. „Wenn meine Werke als Kompositionen irgendwelche Ansprüche für sich geltend machen können, dann zähle ich voll und ganz auf den ernsten Unterton, der sich durch alle meine Opern zieht“, so Sullivan. „Beim Ausarbeiten der Partituren halte ich mich an die Grundsätze jener Kunst, die ich bei der Arbeit an gewichtigeren Werken gelernt habe. Jeder Musiker, der die Partituren dieser komischen Opern analysiert, wird nicht vergebens nach dieser Ernsthaftigkeit und Seriosität suchen.“

 

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Zur Sullivan-Rezeption in England und Deutschland siehe:

M. Saremba: „'We sing as one individual' ? – Popular Misconceptions of 'Gilbert and Sullivan'“, in Eden/Saremba: The Cambridge Companion to Gilbert and Sullivan, Cambridge University Press 2009, S. 50 – 66.

Jana Polianiovskaia: „'See how the Fates their gifts allot' – The reception of productions and translations in continental Europe“, in Eden/Saremba: The Cambridge Companion to Gilbert and Sullivan, Cambridge University Press 2009, S. 216 – 230.

M. Saremba: „In the Purgatory of Tradition: Arthur Sullivan and the English Musical Renaissance“, in Brüstle/Heldt: Music as a Bridge – Musikalische Beziehungen zwischen England und Deutschland, Hildesheim 2005, S. 33 – 71.
M. Saremba: „The Crusader in Context: Operatic Versions of Ivanhoe and the Berlin production 1895/96“, in Eden: Sullivan's Ivanhoe, Saffron Walden 2007, S. 69 – 108.

British Music Society (Hrsg.): British Opera in Retrospect, 1985.


1Johannes Scholtze: Vollständiger Opernführer durch die Repertoireopern (nebst Einführungen, geschichtlichen und biographischen Mitteilungen), S. Mode's Verlag, Berlin o. J., S. 445 und 715.